Gerade blicke ich das letzte Mal zu dem großen Reisstrohseil (shimenawa) über mir auf. Es wiegt mehrere Tonnen und wird in mühevoller Handarbeit hergestellt. Ich bin in Izumo und habe mir heute einen Traum erfüllt: den Izumo-taisha-Schrein zu besuchen. Er liegt an Japans Westküste – eine Gegend, in die sich nur wenige westliche Touristen verirren. Japanische Touristen hingegen gibt es viele. Denn nach dem Ise-jingū ist der Izumo-taisha eines der wichtigsten Heiligtümer des Shintoismus.
Als ich gerade dabei bin, glücklich und voll neuer Eindrücke das Schreingelände zu verlassen, dringt Musik an mein Ohr. Kurz vor dem Ausgang ist eine provisorische Bühne aufgebaut. Treibende Trommelmusik und das Rascheln von Stoff und Papier ziehen mich unweigerlich an. Es wird ein kagura-Theaterstück aufgeführt. Keine Seltenheit in der Region, wie ich im Verlauf meiner Reise feststellen sollte.
Wurzeln des kagura-Theaters
Hinter dem Begriff kagura 神楽 (dt.: „Göttermusik“) verbergen sich uralte shintoistische Traditionen. In Ritualen, die oft an den Jahreskreislauf gebunden sind, werden die Götter um ihren Segen, eine Reiche Ernte, Gesundheit, Frieden und vieles mehr gebeten. Ein Beispiel sind Zeremonien zum Pflanzen der Reissetzlinge. Eine große Zahl dieser Rituale fällt in den Herbst zum Dank für eine gute Ernte.
Im Mittelpunkt dieser Tradition stehen ritualisierte Tänze, die die Anwesenheit eines Gottes (kami 神) herbei beschwören. Eine wichtige Rolle spielen heilige Gegenstände wie Fächer, Zweige des sasaki-Baums oder auch Schwerter und Spiegel (die beide zu den Reichsinsignien Japans gehören). Bei anderen Zeremonien versetzen Schreinhelferinnen oder spezielle männliche Tänzer sich in Trance, um so zum Medium der Götter zu werden.
Was steif klingt, hat sich in weiten Teilen zu einer sehr zugänglichen japanischen Theaterform entwickelt. Heutzutage assoziiert man mit dem Begriff kagura in ländlichen Gegenden zwar noch immer Riten des Jahreskreislaufs. Doch zeitgleich hat sich daraus eine volksnahe Unterhaltungstradition entwickelt, bei der Legenden der japanischen Mythologie und Heldengeschichten aus dem Mittelalter teils in Schreinen, teils von fahrenden Theatergruppen in den Städten aufgeführt werden.
Izumo- und Iwami-kagura
Meine Reise führte mich an Japans Westküste die Präfektur Shimane entlang – Japans Hochburg des kagura-Theaters (Anmerkung: Hiroshima behauptet von sich ebenfalls die Hochburg des kagura zu sein 😉). Immer wieder stolperte ich an Schreinen zufällig in Aufführungen hinein, die ich als kagura erkannte, die sich aber dennoch stark unterschieden. Denn zwei Traditionen herrschen in Shimane vor und stehen in freundschaftlicher Konkurrenz miteinander: das Izumo-kagura und das Iwami-kagura.

Beim Izumo-kagura handelt es sich um die konservativere Form des Schreintheaters. Viele Stücke beschäftigen sich mit den frühen Mythen des shintō, die Abläufe sind streng durchgetaktet und erinnern in Aspekten an das stark symbolische nō-Theater. Im Gegensatz dazu ist das Iwami-kagura moderner, pompöser, effekthascherischer.

Ein gutes Beispiel, das die Unterschiede der beiden Stile verdeutlicht, ist das Stück „Orochi“. In der Geschichte bekämpft der göttliche Held Susanoo den achtköpfigen Drachen Yamato-no-Orochi. Das Biest, welches im Izumo-kagura von nur einem Schauspieler in einer Art Krokodilskostüm dargestellt wird, gleicht im Iwami-kagura einem großen Spektakel. Mehrere Schauspieler verkörpern den Drachen mit meterlangen Röhren und furchterregenden Masken. Eine Nebelmaschine sorgt für Rauchschwaden im Raum, Besucher im Publikum, die zu nah an der Bühne sitzen, bekommen den monströsen Drachen am eigenen Leib zu spüren: hier schlägt ein Schwanz aus, dort schnappt einer der Köpfe bedrohlich zu.

„Orochi“ ist das Highlight eines jeden kagura-Abends, der bis in die frühen Morgenstunden dauern kann und wirst meist am Ende der Veranstaltung aufgeführt.
kagura-Theater selbst erleben
Diese kagura-Feste finden meist im Herbst zur Erntezeit statt und sind ein ganz besonderes Erlebnis. Dennoch kannst du auch unterm Jahr einen kleinen Eindruck in diese spannende Theaterform bekommen. An manchen Orten finden wöchentliche kurze kagura-Aufführungen statt. So zum Beispiel im UNESCO-Weltkulturerbe-Städtchen Yunotsu Onsen.

Bis heute fühlt es sich für mich ein bisschen verrückt an, dass ich überhaupt dort war. Denn ich kannte den Ort und seine kagrua-Tradition vorab aus dem TV. In der großartigen Dokumentation „Japan von oben“ besuchte der Journalist die Schauspieler und durfte sie bei ihren Proben beobachten. Ab da war klar: das möchte ich erleben.


Fast jeden Samstag von 20:00 bis 21:30 Uhr wird im Tatsunogozen Schrein (龍御前神社) gespielt, der Eintritt kostet 2.000 Yen. Den Ausflug kann man gut verbinden mit einem Bad im Onsen und einem Ausflug zur UNESCO Weltkulturerbe Silbermine Iwami Ginzan.
Tatsunogozen Schrein Website mit Spielplan (jap.)

Neben meinem gezielten Besuch in Yunotsu Onsen bekam ich zufällig gleich an mehreren Schreinen rund um Izumo kurze kagura-Stücke zu sehen. Durch die mitreißende Musik ist man sofort involviert, die Geschichte erklärt sich einem auch ohne Japanischkenntnisse. Deshalb empfand ich das kagura als eine sehr zugängliche Form des japanischen Theaters. Und wenn sich dir die Möglichkeit bietet, eine Aufführung zu sehen, solltest du sie am Schopf packen. Aber Vorsicht, bei Orochi lieber nicht zu weit vorne sitzen. Sonst packt der Drache dich am Schopf.
Quellen und weiterführende Links
JNTO: Iwami Kagura
Fremdenverkehrszentrale Shimane: UNESCO World Heritage Site, Yunotsu Onsen
„An Invitation to Kagura: Hidden Gem of the Traditional Japanese Performing Arts: Hidden Gem of the Traditional Japanese Performing Arts“ von David Petersen*
The Japan Times: Kagura: Witnessing the changing face of a theatrical tradition
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